Wie ich Mut zur Trauer und zum Leben gefunden habe

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Sara White erzählt wie sie nach dem Tod ihres Bruders Mut zur Trauer und zum Leben gefunden hat

Meine Mutgeschichte beginnt mit Trauer und Verlust – doch, wie ich ein Jahr später weiß, ist es auch eine Geschichte von Liebe und Dankbarkeit. Es ist die überraschende Erfahrung, dass man mit Mut und Offenheit auch in dramatischen Umständen dem Leben zugewandt bleiben kann.

Der Anruf kam um 11:32 Uhr an einem grauen Freitag im November. Es war der jähe Beginn des Abschieds von meinem Bruder. Alles überschlug sich: Rettungseinsatz, Hubschrauber, Intensivstation, bange Telefonate, Warten auf Ergebnisse. Die endlose Zugfahrt in die Klinik mit Schreckensvorstellungen von piepsenden Geräten und Schläuchen, meine Mutter ganz grau im Gesicht. Dann die Wirklichkeit des ersten Besuchs: Dankbarkeit und Erleichterung statt Schrecken: Mein Bruder war noch da, wir konnten seine Hand halten und für ihn da sein. Wir fassten einen Entschluss: Wir stehen das als Familie gemeinsam durch, egal, was kommt.

Der erste Funke Hoffnung verpuffte innerhalb der ersten Woche. Mein Bruder sollte nicht mehr aufwachen. Sein Zustand verschlechterte sich zusehends und verlangte uns eine Entscheidung ab. Eine weitere Welle des emotionalen Tsunamis, der uns an jenem Freitag erfasst hatte und innerhalb von zwei Wochen immer höhere Wellen schlug.

Nachts ersann ich einen kleinen Trick, um schlafen zu können: Ich legte die ganze Geschichte gedanklich in eine Schachtel, band eine Schleife drumherum und legte die Box in eine Schublade neben dem Bett. Ich spürte, wie die Anspannung aus meinem Körper wich und wie ich einfach existierte – unabhängig von Gedanken und Umständen.

Tags fragte ich mich immer wieder prüfend: Was denkst du gerade? Nach früheren Coachinggesprächen mit Daniel und der langjährigen Auseinandersetzung mit dem kognitiven Ansatz (u.a. als Herausgeberin der wöchentlichen Newsletter des DHI) wusste ich, wie wichtig es ist, die Realität anzuerkennen. Ich suchte den Mut, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und nicht zu hadern. Gedanken wie „es kann und darf nicht sein“ erzeugen nur zusätzliches Leid. Sie erschweren zudem die wichtige Erkenntnis, wann welche Entscheidungen getroffen werden müssen. Ich wollte stark bleiben: für meine Eltern, für meinen Bruder, für mich.

Stark sein und nicht mitsterben

Stark sein bedeutet nicht, nichts zu fühlen. Diesem Bären bin ich früher aufgesessen. Stark sein bedeutet Mut zu starken Gefühlen zu haben: zu trauern und sich darüber die Augen auszuheulen. Einen nervösen Magen und inneres Zittern zu haben, in der dauerangespannten Erwartung des nächsten Anrufs aus der Klinik. Im Gespräch mit Familie, Partner und Freunden zu bleiben. Unerwartete Gefühle urteilsfrei zuzulassen und sie wieder ziehen zu lassen. Stark sein bedeutet, auf sich aufzupassen: Pausen im Sturm zu suchen und auf die Gedanken zu achten, um den Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert zu sein. So findet man einen selbstgesteuerten Weg durchs Chaos.

Ich erinnere mich an einen Spaziergang während dieser nervenaufreibenden Kliniktage. Es war der einzige Tag, an dem die Sonne schien, in diesen sonst eisigen, nebelverhangenen Zeit. Das Licht schien durch die letzten bunten Blätter und ließ sie mit strahlenden Konturen aufleuchten. Sie drehten sich leicht im Wind. Auf einmal erfasste mich eine große Dankbarkeit, dass meine Sinne funktionieren: Ich kann die Farben sehen, den Lufthauch spüren, die Vögel hören. Wie kostbar das Leben doch ist.

Es kam mir seltsam vor, dass ich diese Gedanken haben konnte, während mein Bruder im Sterben lag. Doch er war auch der Grund, dass ich sie hatte. Dieses Paradoxon war das erste von vielen: Wenn jemand stirbt, geht das Leben weiter – so merkwürdig oder unpassend das erscheinen mag. Das ist so wichtig zu erkennen und zu akzeptieren: in kleinen lichten Momenten wird damit der Weg aufgezeigt, den man gehen muss, um nicht mitzusterben.

Frieden

Wir besuchten meinen Bruder gemeinsam und im Wechsel: lange Anreisewege aus Ludwigsburg, München und England überschnitten sich wie silberne Fäden. Niemand wusste, wie lange er durchhalten würde. Er wirkte wie gefangen in einer Zwischenwelt und kämpfte unter motorischer Hochspannung.

Knapp zwei Wochen nach dem ersten Anruf erhielten wir die Nachricht, dass es zu Ende geht. Mein Lebenspartner fackelte nicht lange und sagte: Ich komme mit und wir fahren jetzt los. Ohne zu wissen, ob wir es rechtzeitig schaffen, fuhren wir vier Stunden durch die Dunkelheit und hofften. Mein Vater fuhr voraus und hielt uns auf dem Laufenden.

Die große Klinikhalle war ruhig als wir ankamen und wir passierten mit Ausnahmebescheinigung alle Schranken. Mein Bruder schlief und wirkte friedlich – die quälende Unruhe der letzten Tage hatte ihn für eine Weile verlassen. Im Hintergrund gluckerten die Geräte leise und es herrschte eine tiefe Ruhe. Unser nacktes Sein war spürbar. Ich strich meinem Bruder über den Kopf, legte meine Hand auf seine Brust und lauschte seiner schweren Atmung. Er wirkte erlöst.

Erinnern

Just drei Tage vor dem Ereignis hatte ich ihn nach langer Zeit wieder besucht. Ein großer Zufall und ein großes Glück, für das ich sehr dankbar bin. Ich reiste mit dem Zug an und hatte etwas Verspätung. „Wo bleibst du?“ schrieb er mir. „Ich bin gleich da, wir haben einen unplanmäßigen Halt eingelegt.“ „Die Bahn findet planmäßige Halte doch schon herausfordernd genug, warum legen sie dann noch unplanmäßige ein?“ kommentierte er gewohnt pointiert. Ich lachte.

Aufgrund unserer Jobs lag seit Jahren eine räumliche Distanz zwischen uns, aber wir trafen uns immer wieder auf halber Strecke in unserem Münchner Stammcafé. So auch 2014 als wir den Plan für eine gemeinsame Reise ausheckten: Wir beschlossen, nach Island zu fliegen, um die Nordlichter zu fotografieren. Ein Jahr später flogen wir wieder hin, mit dem Ziel einen aktiven Vulkan zu fotografieren. Wir hatten unwahrscheinliches Glück: An genau einem Nachmittag riss der Himmel für ein paar Stunden so weit auf, dass der Heli fliegen konnte. Mein Bankkonto hatte im Anschluss auch ein Brandloch, aber diese Zeit haben wir beide nie vergessen. Sie wird für immer bleiben.

Nun lag er da. Mein furchterregend intelligenter Bruder, von Beruf und Berufung Notarzt und Intensivmediziner. Der Mensch, der in Coronazeiten so vielen Menschen auf der Intensivstation geholfen hat und der seit jungen Jahren im Einsatz war: bei Johannitern, Feuerwehr und Rotem Kreuz. „Warum machst du das?“, habe ich ihn einmal gefragt. „Ich will einfach sicher sein, dass ich im Notfall handeln kann“, war seine Antwort. Charaktertypisch nannte meine Mutter später seinen Abschied aus dem Leben – Leise war nicht sein Ding.

Mein jüngerer Bruder schaffte es noch rechtzeitig aus England in die Klinik – es war seine zweite Anreise innerhalb von zwei Wochen. Wir gaben uns die Klinke und überreichten ihm eine Winterjacke: Vor lauter Aufruhr hatte er seine vergessen.

200 Menschen kamen zur Trauerfeier an einem eiskalten sonnigen Tag im Dezember. Mich graute es seit Tagen davor. Doch ich durfte eine neue Erfahrung machen: ich war komplett überwältigt von der vielen Anteilnahme und Unterstützung, die uns zuteil geworden ist. In einem weiteren scheinbaren Widerspruch zu den Umständen passierte gleichzeitig auch Gutes: Ich habe die besten Freunde von meinem Bruder kennengelernt, seine Kollegen und die Nachbarn. Ohne ihre Unterstützung hätten die vielen langen Monate nach seinem Tod ganz anders ausgesehen. Die harte Aufgabe, die Wohnung aufzulösen, hätte vermutlich rein logistisch meine Kapazitäten gesprengt. Emotional war jede Reise dorthin auch ein Wiedersehen und ein Teilen der Trauer mit Menschen, die meinem Bruder nahestanden. Den Kontakt halten wir bis heute und dafür bin ich sehr dankbar.

Ein anderes Da-Sein

Nach seinem Tod war mein Bruder paradoxerweise omnipräsent. Teilweise ist es heute noch so. Der Trauerprozess und die endlos langen organisatorischen und behördlichen Notwendigkeiten ließen ihn jeden Tag „hier“ sein. Gleichzeitig wurden wir alle von einer absoluten Ungläubigkeit erfasst: Es kann doch einfach nicht sein, dass er tot ist. Ich habe dieses Gefühl beobachtet und glaube zwischenzeitlich, dass es keine Leugnung der Realität ist, sondern unserer Erfahrung entspricht. Ich glaube wir erfassen uns nahestehende Menschen dreidimensional: Wir sehen sie, fühlen, riechen und hören sie. Diese Eindrücke prägen sich physiologisch im Gehirn ein. Wenn dieser Umstand aufhört, fehlt uns die Erfahrung des Nicht-mehr-Da-Seins. Wie will man Nicht-Da-Sein auch be-greifen?

Die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit dauert so lange, bis die tägliche Erfahrung des Anders-Da-Seins mehr zur Gewohnheit wird. Ich habe ein Selfie auf meinem Schreibtisch, die mein Bruder und ich nach unserem letzten Café-Besuch gemacht haben. Es geht mir besser, wenn ich mit ihm, statt über ihn rede. Das klingt vielleicht komisch, funktioniert aber: Ich „höre“ in meinem Kopf, was er antworten würde, und habe innerlich wieder Verbindung. Das schützt uns als Familie auch vor all zu viel Selbstmitleid: Wir sind uns sicher, dass er sich wünschen und erwarten würde, dass wir klarkommen. Jawoll, Herr Doktor, wir arbeiten daran, versprochen.

Der Trauerprozess ist lang und anstrengend und geht nur mit viel Geduld und Akzeptanz. Die einzige Konstante ist der emotionale Wandel: Trauer, Schuld, Ärger, Vorwürfe, Erschöpfung, Liebe und Dankbarkeit wechseln sich nach ganz eigenem Drehbuch ab. Auch trauert jeder anders, sogar innerhalb der eigenen Familie. Das darf sein.

Dankbarkeit

Es gibt Dinge, die nie gut sein werden, auch wenn man sie 20.000-mal (ja, erwischt) umdreht: Das Leid meines Bruders und die dazugehörigen Umstände werden nie ok sein. Doch sie sind unabänderlich. Möglicherweise werden sich noch lange Zeit daraus Impulse ergeben. Durch diese unerwartete Begegnung mit dem Tod schätze ich das Leben mehr denn je, denn mir ist noch bewusster geworden, wie endlich sie ist. Es ist deshalb so wichtig, sich immer wieder mutig zu fragen, was im eigenen Leben von Bedeutung ist und ob es Anpassungen bedarf.

Am meisten erfüllt mich neben aller Trauer eine große Dankbarkeit: für die Lebenszeit mit meinem Bruder. Für das exzellente, empathische Ärzte- und Pflegeteam. Für das Zusammenrücken unserer Familie. Für die unterstützenden Gespräche und Anteilnahme durch das DHI-Team und den liebevollen Mann an meiner Seite :). Mit diesen Gedanken gewappnet starte ich zum Jahrestag des Geschehens erneut in die Adventszeit.