Ich war ein Rennauto ohne Räder:
Warum Mut Weisheit braucht

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Warum Mut Weisheit braucht – Katrin Holzinger erzählt ihre Mutgeschichte

Mut: Die Reise durch meine persönliche Entwicklung

Über die Jahre und insbesondere in den letzten Monaten habe ich mich intensiv mit dem Thema Mut auseinandergesetzt. Es ist ein Gefühl, das in meinem Leben viele Facetten und Entwicklungen durchlaufen hat. Wie ich den Mut verstehen lernte und wie er sich im Laufe der Zeit in mir entfaltete, möchte ich nun in einer persönlichen Geschichte mit euch teilen. 

Eine Kindheit jenseits der Stereotypen

Meine Kindheit war geprägt von einer Persönlichkeit, die sich nicht den typischen Geschlechterklischees anpasste. Als Kind liebte ich es, auf die höchsten Bäume zu klettern und mit Freunden durch die Wälder zu streifen – eine Abenteurerin in einer Welt, die mir vermeintlich offenstand. Meine Fantasie und mein Tatendrang waren grenzenlos, aber mein Leben wurde von dicken Mauern und dem politischen System der DDR eingeschränkt. Mut verstand ich hauptsächlich als Mutprobe. 

Wenn ich dann mal ruhig dasaß, weil ich gern den Gesprächen der Erwachsenen lauschte, anstatt mit den Kindern rumzutollen, interpretierten die Erwachsenen mein Verhalten als Schüchternheit. Doch wie passte das wiederum zusammen, wenn ich im nächsten Moment zu viel diskutierte und ohne Punkt und Komma plapperte? Deshalb erhielt ich sogar einen passenden Spitznamen einer bekannten Kinderfigur aus dem DDR-Rundfunk. In der Schule mochten es manche LehrerInnen und forderten mich heraus. Andere setzten mir nur ihre Macht und Schwäche entgegen. Sie meinten, ich würde auf kritische Hinweise unbeherrscht reagieren. 

Meine Gedanken und meine Meinung waren oft geprägt von „Das sagt man nicht!“ oder „Pass auf, was du sagst!“ oder „Das gehört sich nicht!“ oder „Als Mädchen geht das nicht.“ oder „Du bist zu klein.“ Dadurch lernte ich mein impulsive Art nach außen zurückzuhalten. Aber innerlich brodelte es und wenn ich spürte, dass etwas nicht stimmte, haute ich meine Meinung aus Trotz dann doch heraus. Kinder stellen eigentlich ganz natürlich viele Fragen nach dem Warum: um die Welt besser zu verstehen, zu lernen und sich zu entwickeln. Für mich blieben wichtige Fragen offen – u.a. die Frage, wieso manche Menschen einfach aus meinem Leben verschwunden sind. Mein Mut wurde durch ein System und gesellschaftliches Denken beschränkt, ein System das die freie Persönlichkeitsentfaltung und freie Gedanken tatsächlich bestrafte, auch in unserem Umfeld. Mein Mut sollte durch Systemangst in das richtige Maß gefasst werden. 

Einflüsse meiner Familie

Meine Eltern waren wie Yin und Yang für meine Persönlichkeit. Sie ergänzten mein Naturell mit ihrer Einzigartigkeit. Beide hatten seit ihrer Geburt kein leichtes Leben, aber sie bahnten sich immer wieder ihren Weg.  

Meine Mutter, eine wundervolle Frau, war gleichzeitig eine herzliche Mutter, kreative Designerin unserer Kleider, taffe Chefin, strenge Finanzministerin der Familie und eine echte Macherin. Ich mochte es, wenn ich sie am Nachmittag von der Arbeit abholen konnte. Ich stand als kleines Mädchen vor dem Tor der Firma und war immer voller Freude, wenn sie aus der Tür herauskam, die Jacke noch im Schwung, und mich anstrahlte.  

Gemeinsam erledigten wir zu Fuß, was zu erledigen war. Selbst als ich mir im tiefsten Winter meinen Finger schwer verletzte, liefen wir noch am Abend die paar Kilometer in die Notaufnahme des Krankenhauses. Ich war tatsächlich die einzige Patientin und erwischte den stadtbekannten Miesepeter von Doktor. Doch war er entgegen den Gerüchten absolut kompetent und sehr nett zu mir.  

Heute ist es unvorstellbar, eine leere Notaufnahme vorzufinden. Meine Schmerzen waren groß und der Finger blutete, aber zusammen war das schnell erledigt – kurze OP, Verband dran und ab nach Hause. An der Seite meiner Mutter lernte ich, wie wichtig es ist, selbst in schwierigen Momenten aktiv zu sein, um nicht unnötig lange durchzuhängen. Mut war bei ihr stets mit dem Machen gleichgesetzt. 

Mein Vater hingegen war ein auf Harmonie bedachter Kommunikator, den ich oft durch die Stadt und die Region begleitete, um Kontakte zu knüpfen und Dinge im Gespräch zu regeln. Ich muss dazu erwähnen, dass wir zuhause kein Telefon hatten. Also fuhren wir zu den Freunden, Kollegen und Bekannten. Ich lernte Helmut in der Werkstatt und Inge in der Post kennen und konnte beim Bäckermeister in der herrlich riechenden Backstube zuschauen. Mein Vater war bekannt wie ein bunter Hund und wie eine wandelnde Zeitung. Er redete viel und hatte viel Freude dabei. Dadurch fehlte es uns an nichts. Ob Bananen oder Orangen (seltene und heiße Ware in der DDR), wir hatten es prompt zuhause. 

Die unterschiedlichen Herangehensweisen meiner Eltern an das Leben prägten mich auf vielfältige Weise. Meine Mutter ist eine Frau, die stets nach vorne schaut, um selbst schwierigste Hindernisse zu überwinden. Probleme gehören für sie direkt gelöst. Mein Vater liebt es, wenn die Umstände und Menschen harmonisch sind. Dieser große Wunsch kollidierte nur leider permanent mit den Geschehnissen des Lebens und in meiner impulsiven Jugend auch mit mir. Wenn er mir heute seine Geschichten erzählt, weiß ich, wieso ihn die Angst gerade in stressigen und schwierigen Momenten bremste. In den letzten Jahren konnte ich ihn erst wirklich verstehen. Ich weiß nun, dass er definitiv immer sein Bestes gegeben hat und ein großes Herz in sich trägt. 

Meine Brüder und meine persönliche Wahrnehmung

Dann gibt es noch meine Brüder. Für sie war ich die Kleene und immer etwas Besonderes – so wie sie es für mich waren. Mein schwerbehinderter Cousin, den meine Mutter bereits mit 17 Jahren wie einen eigenen Sohn aufnahm, hinterließ tiefe Spuren in mir. Seit meiner Geburt waren wir im Herzen Bruder und Schwester, Seite an Seite. Seine Geschichte erzähle ich euch vielleicht ein anderes Mal. 2018 durften wir von ihm Abschied nehmen. Sein Kampfgeist, wie er auf die Meinung anderer pfiff, und die Fähigkeit, die Freude in den kleinen Dingen des Lebens zu finden, beeindruckten mich zutiefst. 

Auch mein zweiter großer Bruder ist ein wesentlicher Teil meiner Entwicklung, obwohl wir äußerlich und charakterlich wie Tag und Nacht sind. Er ist bis heute mein Freund. Wir telefonieren ständig und haben uns immer viel zu erzählen. Jeder von uns macht sein Ding, und trotz der Distanz bleiben wir uns nah.  

Wenn Menschen uns früher betrachteten, sahen sie zwei verschiedene Personen. Er war blond, und ich war schwarzhaarig. Er war damals rebellisch, ich eher ruhig und ehrgeizig. Wir stritten uns, lachten zusammen und passten aufeinander auf. Er unterstützte und bekräftigte mein Denken und Handeln. Er war immer stolz auf seine kleine Schwester und stärkte mir den Rücken. Eine kleine Anekdote muss erwähnt werden: Zu meiner Hochzeit kam er hauptsächlich, um zu erleben, ob ich wirklich heirate. Er glaubte nicht, dass es einen Mann an meiner Seite geben könnte, der meine Tugenden mit mir teilen konnte. Und den gibt es bis heute (#grins). 

Die Reise durch Systeme und Herausforderungen

Mit der Zeit erkannte ich, dass ich durch meine Persönlichkeit, die Einflüsse meiner Familie, die Umstände und Systeme geformt wurde. Der Mut, den ich als „Machen und nicht lange fackeln“ definierte, war ein Leitfaden in meinem Leben. Denn Schwierigkeiten gehörten für mich immer zum Leben dazu: „Das war halt so.“

Von der Kleenen wuchs ich zur Großen heran. Doch „es ist halt so“ wollte mein Naturell nie wirklich akzeptieren. Das Macherprinzip und die Fackel der Wut auf Umstände und Systeme waren ständig im Gepäck. Sie sollten mir in meiner späteren beruflichen Laufbahn neben Aufstiegsmöglichkeiten auch Frust und Ängste bescheren. 

1992 führten uns die historischen Ereignisse und Zufälle als Ossi-Migranten* in den tiefen Schwarzwald und stellten nicht nur mich vor Herausforderungen, die mich antrieben und zugleich frustrierten. Trotzdem fanden meine Familie und ich Wege, uns anzupassen und voranzukommen. (*Meine Eltern mögen diesen Begriff überhaupt nicht, aber er beschreibt einfach die damalige realistische Situation.) 

Ein paar Jahre später begann ich bereits mit 16 Jahren meine berufliche Laufbahn, die auf Sicherheit ausgerichtet, immer steil nach oben ging. Angetrieben vom Machen stieß ich allerdings regelmäßig an kritische Punkte, die ich nicht wirklich verstand. Wieso bekam ich im Studium plötzlich Prüfungsangst, wenn mir das Lernen sonst immer leichtfiel und ich mit Leidenschaft selbst unliebsame Dinge erledigen konnte? Wieso wollten andere nicht so, wie ich wollte, und wieso dauerte es so lange, Dinge zu verändern? Warum wurde ich ständig ausgebremst, weil man einer jungen Frau häufig nicht das Wissen oder den Mumm zutraute, die in der Führung nötig sind? 

Ich wurde auch wütend auf mich, wenn ich nicht direkt eine Lösung für Herausforderungen fand. Ich suchte hartnäckig nach praktischen Lösungen, aber immer nur bei den Umständen. Ich startete die nächste Aktion, um die Wut zu betäuben und das Problem vermeintlich zu lösen. Durch dieses mutige Machen blieb ich aktiv, kletterte schnell die Berge hinauf und verharrte nicht lange in Problemen. So bildete ich mich ständig weiter und erlernte auch die kognitive Kompetenz für meine Führungsaufgaben.  

Doch hinter diesem Macherprinzip baute sich auch der Druck und der entsprechende Frust auf. Zunehmend wurde mir klar, dass mir ein Werkzeug fehlte, um die Energie dorthin zu lenken, wo sie fließen konnte und das mir erlaubte zu erkennen und zu akzeptieren, wo es sich um Ressourcenverschwendung handelte.  

Dieses Werkzeug fand ich 2013 in der Cognitive Coaching Ausbildung. Endlich lernte ich, dass dieses Macherprinzip zu meiner Persönlichkeit gehört und dass es keine Selbstverständlichkeit ist: Ich kann nicht voraussetzen, dass es alle haben. So fing ich an, ein Verständnis für unterschiedliche Ausprägungen von Mut zu entwickeln und zu erkennen, wie ich Menschen entsprechend mitnehmen kann. Ich erkannte ebenfalls, dass es Umstände gibt, die ich tatsächlich nicht verändern kann und lernte, diese Realität zu akzeptieren. Ich differenzierte nun viel besser zwischen der Sache und den Menschen. Ich konnte eisenhart in der Sache bleiben, aber weich zu anderen und auch zu mir selbst sein. Das ersparte mir viel Wut und Frust und schenkte mir eine ruhige Weitsicht. Ich wusste nun, welche Veränderungen wirklich gewinnbringend sind. 

2016 kündigte ich folglich mein komfortables Konzernleben und folgte dem Ruf einer Mission. So gingen mein Ehemann und ich 2017 zum Notar, um beide Geschäftsführer des Dr. Holzinger Instituts (in der heutigen Form) zu werden. „Ist das Mut oder Irrsinn?“ fragte sich so manch einer. Ich kann klar sagen: Es war mein Mut, der in mir ist und einfach macht. Ich hatte keine Angst vorm Risiko, vom vertrauten Konzernleben in die Selbstständigkeit zu wechseln. Andere interpretierten es als fragwürdig oder sogar als Rückschritt. Sie sahen nicht, dass es für meine persönliche Entwicklung und meine Stärken ein wichtiger Schritt nach vorne und nach oben war. Aber wie würde meine Familie sagen: „Pfeiff‘ drauf.“, „Mach‘ Dein Ding.“ und „Wir packen das schon.“  

Stärken und Talente schwarz auf weiß

Ein weiterer Wendepunkt in meiner Selbstwahrnehmung kam, als unser Mentor und Professor Milenko Vlajkov mir meine Stärken und Talente in einer Potenzialanalyse aufzeigte. „Du bist ein Rennauto ohne Räder.“ sagte er. Es war wie das letzte Puzzle, dass mir für mein persönliches Bild fehlte. Das Rennauto leuchtete strahlend rot vor meinem geistigen Auge. Ich bin schneller als manches System oder das Denken anderer. Mein vielfältiges Interesse ist kein Hindernis, es macht mich aus und ist Teil meiner großen Kreativität für Lösungen. Doch weil ich diese Stärken habe, werden sie gerne von anderen in Anspruch genommen, die meine übergeordneten Ziele nicht im Sinn haben. Es liegt also auch hier an mir zu erkennen, wann und wo ich sie für wen einsetze. Wenn ich mich zu sehr von anderen umleiten lasse, blockiere ich mich selbst und werde zum Rennauto ohne Räder.  

Diese vielen Erkenntnisse ließen die Flamme der Wut und Frustration endlich ganz klein werden. Meine Ressourcen konnte ich nun besser nutzen und verschwendete sie nicht mehr. Es war ein Prozess, der meine Sichtweise auf mich selbst und meine Fähigkeiten veränderte. Ich erkannte mich und nahm meine Stärken nicht mehr als selbstverständlich. Meine innere Leichtigkeit kehrte zurück. 

Fazit: 

Mit weniger Wut in den Knochen hätte ich, rückwärts betrachtet, manches anders gestaltet. Doch half mir mein Mut auch, viele schwierige und sogar Extremsituationen als Kind, Tochter, Schwester, Schülerin, Angestellte, Führungskraft, Freundin, Mutter, Ehefrau und Unternehmerin zu überwinden. Letztendlich zeichnet mich der Mut in all diesen Aufgaben als Mensch und Macherin aus. Ich habe einfach Lust daran, Dinge kritisch zu hinterfragen und wenn es relevant ist, die Dinge zu verändern. 

Die größte Macht, die jeder von uns hat, egal in welchem System man steckt, ist den eigenen Mut richtig einzusetzen, ihn zu fördern oder herauszufordern. 

Mut ist für mich eine persönliche Reise, geprägt von Geschichten, Einflüssen und Entwicklungen. Jeder hat seinen eigenen Mut, und es liegt an uns selbst, diesen zu erkennen und zu nutzen, um unser Potenzial zu entfalten. Es ist ein kontinuierlicher Prozess des Wachsens und der Selbstakzeptanz, der uns hilft, unsere Persönlichkeit zu formen und die Welt um uns herum aktiv mitzugestalten. 

Ich bin gespannt, welche Geschichten ihr mir über euren Mut erzählen werdet. 

Eure Katrin Holzinger